Das Leben der infamen Frauen


Ramón Reichert, Viennale-Falter

Tina Leisch setzt mit “Gangster Girls” neue Maßstäbe in der filmischen Erkundung des österreichischen Strafvollzugs.

Das einzige Frauengefängnis Österreichs ist in einem kaiserlichen Jagdschloss im niederösterreichischen Schwarzau untergebracht. 2007 feierte die Justizanstalt Schwarzau ein merkwürdiges Jubiläum: 50 Jahre Frauengefängnis und mehr als 5000 Lebensjahre hinter Gittern. Obwohl das Gefängnis selbst immer wieder wegen inhumaner Razzien und der sukzessiven Enthumanisierung des Strafvollzugs in der Öffentlichkeit kritisiert wurde, feierte man das 50-jährige Bestehen mit einem Theaterstück. Die inhaftierten Frauen von Schwarzau spielten gemeinsam mit den Häftlingen der Jugend-Strafvollzugsanstalt Gerasdorf “Medea bloß zum Trotz”. Das von Nestroypreisträgerin Tina Leisch inszenierte Stück erzählt das Drama der Lebensgeschichten der inhaftierten Frauen. Sie erzählen von falschen Liebschaften, Betrug, Verrat, Mord.

Leisch, die bereits im Jugendgefängnis Gerasdorf, im Wiener Männerwohnheim in der Meldemannstraße und am Steinhof ihre Theaterprojekte verwirklicht hat, hat mit “Gangster Girls” nicht bloß die unterschiedlichen Erfahrungen der gemeinsamen Theaterarbeit dokumentiert, sondern darüberhinaus eine filmische Erkundung der Situation gesellschaftlich ausgegrenzter Frauen in Österreich vorgelegt. Zu sehen sind individuelle Selbstbeschreibungen von Frauen, die über ihr Leben in dramaturgisch dichten Rekonstruktionen berichten. Sie erzählen von ihrem früheren Leben, vom Alltag im Gefängnis, über die Trennung von ihren Kindern und wie sie jetzt zu ihrer Tat stehen. Durch die Biografien der weiblichen Strafgefangenen zieht sich ein roter Faden: es sind Geschichten von sexueller Ausbeutung, gesellschaftlicher Ignoranz, frauenfeindlichen Ressentiments und vor allem: von jahrelang ertragener, kaum vorstellbarer Gewalt. Die Gesichter der Frauen bleiben vor der Kamera maskiert. Sie entziehen sich einer eindeutigen Lesart, einem oberflächlichen Verständnis und bleiben vieldeutig und rätselhaft. Rollenspiel und Maske schützen die Frauen vor den Zudringlichkeiten der beobachtenden Kamera. Zögerlich werden die Lebensgeschichten sichtbar. Das mediale Setting bleibt distanziert und eröffnet den Frauen vor der Kamera eine gewisse Kontrolle und Entscheidungsfreiheit über ihr mediales Erscheinungsbild. So kann vermieden werden, “Einzelschicksale” ungeschminkt ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren.
Auf institutioneller Ebene ermöglicht der Film einen Einblick in den streng geregelten Tagesablauf der Frauen. Ein Gefängnis ist in erster Linie eine Institution, die Lohnarbeit ausbeutet. Der Gefängnisalltag besteht hauptsächlich aus Arbeit. Die Interviewszenen integrieren geschickt das Regime der permanenten Zwangsarbeit und zeigen die Auskunft gebenden Frauen während ihrer Arbeiten in der Anstaltsküche, der Näherei oder der Gärtnerei.

Üblicherweise beschränkt sich die mediale Auseinandersetzung mit dem Gefängnisleben auf zwei Diskursfelder, die sich kaum überlagern. Das Medienformat der dokumentarisierenden Darstellung ist dem sozialen Realismus verpflichtet: hier dominiert die Bekenntniskultur im Interviewstil. Das ideale Gefängnis ist bis heute eine geschlossene Institution, die dem Blick von außen und dem Film feindlich gegenübersteht. Daher besteht bis heute die überwiegende Mehrzahl von Gefängnisfilmen aus Spielfilmen. Sie erlauben nur erotisch-voyeuristische Guckkastenbilder und instrumentalisieren damit das Gefängnis als Schauplatz kommerziell verwertbarer Wunschvorstellungen.
“Gangster Girls” setzt demgegenüber neue Maßstäbe und überlässt die Bühne jenen Frauen, die sich mit ihrer Rolle am Rande der Gesellschaft nicht abfinden wollen und auf der Suche nach einem selbstbestimmten Leben sind. Auf beeindruckende Weise erkundet der Film über die Frauen von Schwarzau das emanzipatorische Spiel der Selbstperformance. Damit wird ein vollkommen neuer Blick auf die totale Institution “Gefängnis” möglich: Es geht nicht mehr um die scheinbar objektiv-dokumentarische Vorführung vereinzelter und passiver Subjekte von Schuld, Reue und Sühne, sondern um konkrete Fragen der biographischen Selbstreflexion, die durch probeweise Aneignung von sozialen und geschlechtlichen Rollen formuliert werden können.