Die perfekte Schönheit der Gangster Girls


Barbara Huemer, Augustin 10/2008  [ > ]

Tina Leisch zeigt üppige Bilder statt grauer Häfen-Tristesse

Kunst? Für Tina Leisch war die Kunst nie ein Heiligtum ästhetischer Perfektion, sondern viel mehr ein nützliches Werkzeug für Interventionen im sozialen oder politischen Raum. Mit ihrem Film „Gangster Girls“ wird sie bei der diesjährigen Viennale zweifellos Aufsehen erregen (Anm. d. Red.: Die Aufführungen erfolgten knapp nach Redaktionsschluss). Erstens weil sie ein weitgehend tabuisiertes Thema aufgriff: das Leben von weiblichen Strafgefangenen in der Schwarzau, Österreichs einzigem Frauengefängnis. Und zweitens weil der Film in seiner Aussage wie auch in seiner künstlerisch-ästhetischen Umsetzung sehr gelungen ist.

Praktische Erfahrungen mit sozialpolitischen Aktivitäten sammelte Tina als eine der HausbesetzerInnen des Ernst-Kirchweger-Hauses im 10. Wiener Gemeindebezirk, wo sie zu den Mitbegründerinnen des Volxtheaters Favoriten gehörte. Brechts „Dreigroschenoper“ und „Penthesilea, eine Hundsoper frei nach Kleist“ kamen in den Theatersälen des internationalistischen, multikulturellen Zentrums EKH zur Aufführung. Gemeinsam mit Hubsi Kramar inszenierte Tina 2002 im Männerwohnheim Meldemannstraße Taboris „Mein Kampf“, wofür sie mit dem Nestroypreis für DIE BESTE OFF-THEATER-PRODUKTION ausgezeichnet wurde.

In der Arbeit mit Alkoholikern und psychisch kranken Rechtsbrechern am Steinhof beschäftigte sie sich mit der Geschichte der tausendfachen Ermordung von PsychiatriepatientInnen in der NS-Zeit. Genauso viel Resonanz bei den Darstellern wie beim Publikum erhielt sie mit dem Hip-Hop-Stück „Date your destiny“, das sie mit jugendlichen Insassen der Justizanstalt Gerasdorf erarbeitete und das dann sogar auf Tournee durch verschiedenen Gefängnisse ging. 

Alle diese Erfahrungen konnten Tina Leisch und ihr Team (Produktion: Ursula Wolschlager, Kamera: Gerald Kerkletz & Leena Koppe, Schnitt: Karina Ressler & Julia Pontiller, Musik: Eva Jantschitsch, Ton: Klaus Kellermann, Regieassistenz & Choreographie: Sandra Selimović) für eine noch größere Herausforderung einbringen, die es nun zu bewältigen galt: einen abendfüllenden Film über das Leben von Frauen im Gefängnis Schwarzau zu drehen. 

Ein Anstaltsleiter fragt, welchen Sinn die Anstalt hat

Diese Justizanstalt ist die einzige Strafvollzugsanstalt für weibliche Häftlinge in Österreich. Hier verbüßen alle Frauen, die zu mehr als 18 Monaten verurteilt wurden, ihre Strafe. Nur ca. 5 Prozent aller Strafgefangenen in Österreich sind weiblich. Das tatkräftige Engagement des Anstaltsleiters Gottfried Neuberger erleichterte die Bedingungen für eine konstruktive Zusammenarbeit. Neuberger stellte in einem Interview selbst die Sinnhaftigkeit von Gefängnissen generell in Frage. „Wenn das Gefängnis eine moralische Rechtfertigung hat, dann deshalb, weil man sich bemüht, den Menschen Hilfestellungen zu geben, dass sie nachher in der Gesellschaft besser zurechtkommen. In vielen Fällen gelingt das, nicht in allen. Dafür verantwortlich, ob es gelingt, ist zum Teil das Gefängnis, zum Teil jeder selbst und zu einem ganz großen Teil die Gesellschaft, in die der Gefangene nach der Entlassung kommt. Gibt es da Menschen und Institutionen, die sie stützen, ihnen am Arbeitsmarkt helfen? Es geht vor allem um die kritische Phase sechs bis zwölf Monate nach der Entlassung. Ist die überstanden, ist die Wahrscheinlichkeit für einen Rückfall gering.“ 

Wie ging das Filmteam nun an seine Arbeit heran? Es gab in der Schwarzau schon Ansätze, einen Teil der Freizeit der Insassinnen sinnvoll und künstlerisch zu nutzen. Frau Susanne Schlosstein, die Leiterin einer kleinen Theatergruppe, wählte unter den Frauen einige aus, die an diesem Projekt interessiert waren, Begabung für die Bühne mitbrachten, sich umgänglich und willig zeigten, sich dem Gefängnisalltag anzupassen, und wegen unterschiedlicher Delikte verurteilt waren. Von Sandra Selimović geleitete Improvisationsübungen zu zweit oder zu dritt, in denen die Frauen zunächst spielerisch ihre eigene Situation darstellen konnten, standen am Anfang. Sie sollten über sich erzählen, ihre Geschichten von Liebe und Eifersucht, von Wut und Hass, von Einsamkeit und Verzweiflung, von schief gelaufenem Leben, Resignation und Verbrechen, von Wünschen und Sehnsüchten. Daraus entwickelten sich weiterführende Geschichten und letztendlich auch Texte, die dann von Tina Leisch und Alma Hadžibeganović zum Theaterstück „Medea bloß zum Trotz“ verdichtet wurden. 

Ein widersprüchliches Bild der Institution Gefängnis wird gezeichnet


Der Film wurde zum Großteil während der Arbeit an dem Stück gedreht. Man traf sich zwei bis drei Mal die Woche über ein halbes Jahr hindurch. 6 Frauen und 5 Burschen aus der Justizanstalt für jugendliche Straftäter Gerasdorf standen schließlich auf der Bühne. Etliche weitere hatten eine Zeitlang mitgewirkt, waren dann aber entlassen worden. 
Die grundsätzliche Intention des Films war nicht die dokumentarisch-realistische Wiedergabe der grauen Tristesse des Gefängnisalltags der Häftlinge. Nein, üppige, gut ausgeleuchtete Bilder von jungen Frauen überwiegen. Ihre Gesichter (oft in Großaufnahmen), von der Maskenbildnerin fast bis zur perfekten Schönheit geschminkt, erwecken im Betrachter mehrheitlich Sympathie und Mitgefühl. 
Der Film versucht nicht, sich voller Mitleid in das Eingesperrtsein, das Weggesperrtsein der Häftlinge von der Gesellschaft, von der Außenwelt einzufühlen, er lässt die Eingesperrten einfach selber zu Wort kommen. Sie erzählen von sich. Und sie spielen ihren Alltag nach. Sie spielen sich selbst. Sie spielen JustizwachbeamtInnen und Mitgefangene. In der Brechung von Spiel und vielleicht nicht ganz ehrlichem Bekenntnis wird ein vielschichtiges und widersprüchliches Bild der Institution Gefängnis und der von ihr Entmündigten gezeichnet. Und Widersprüche zeigen sich viele: Das Leben in der Zelle produziert oft noch mehr Kriminalität. Der Kampf darum, wer das Sagen in der Gruppe hat, wer der Kapo ist, ist ständig präsent. Wie auch Gewalt und Verrat. Einige Aussprüche von Betroffenen mögen das belegen. „Draußen war ich nie gewalttätig, aber seit ich im Häfen bin, bin ich richtig aggressiv und gewalttätig, wirklich arg. So kenn ich mich gar nicht, wirklich.“ Oder: „Seit ich in Haft bin, habe ich viel mehr Ahnung von Drogen. Hatte ich vorher überhaupt nicht. In punkto Gift ist das die perfekte Schule. Ich habe früher nicht gewusst, wie man das aufkocht und so, jetzt kann ich das.“ 
Während der Theaterarbeit ließ man den Frauen alle Freiheit, sich selbst darzustellen. Wobei es nicht das Ziel sein konnte, die volle Wahrheit über ihr Leben zu erfahren. „Wir SPIELEN die Wirklichkeit“ blieb das Motto. 

„Gangster Girls“ – das künstlerische Produkt monatelanger enger Zusammenarbeit liegt nun vor, beeindruckend, verstörend, berührend, vielleicht auch betörend. 
Sicher stellt sich aber auch die Frage, welchen Gewinn die Frauen für die dafür aufgewendete Zeit und ihren persönlichen Einsatz hatten? Sie gewannen ein Stück Freiheit – so Tina Leisch -, konnten lernen, Sprachbarrieren zu überwinden, Ausdrucksmöglichkeiten zu finden, die Erfahrung machen, etwas zu beginnen und auch zu Ende zu führen, Kontakt zu Burschen aufnehmen. Die Überlegungen Robert Sommers in einer früheren Augustin-Ausgabe sind keinesfalls von der Hand zu weisen, sondern nur zu bekräftigen: „Resozialisierung ernst nehmen hieße: die Talente der Gefangenen entdecken – das wäre sozusagen der einzig denkbare Bonus des Einsperrens. Wo sonst als im Knast gibt es die Muße, die notwendig ist, um ein Talent zu entdecken? Und dann müsste man auch Bedingungen schaffen, dass diese Talente gelebt werden können. Aber leider: Die Kunstprojekte kitzeln Talente hervor. Die Beteiligten stürzen dann in dem Augenblick, in dem sie ihre Potenziale entdeckt haben, in ein Loch, in dem sie mit hoher Wahrscheinlichkeit die Erfahrung machen, dass ihre Potenziale in der Gesellschaft einen Scheißdreck wert sind. Man könnte das durch eine Kontinuität der Kulturarbeit im Häfen und in Folge in Haftentlassungsprojekten bekämpfen. Das geschieht aber bisher leider nicht.“ 
Tina Leischs resümierender Schlussgedanke unseres Gesprächs weist in dieselbe Richtung. Vielleicht ist ihr Film auch eine Liebeserklärung an diese Frauen. Auf jeden Fall aber ein klares Plädoyer gegen das Wegsperren, ein eindeutiges Infragestellen der Sinnhaftigkeit des Einsperrens, ein Befürworten eines humaneren Strafvollzugs und eine Forderung nach vielfältigen Angeboten von Kunst und Kultur im Gefängnisalltag.