“Selber Schuld!” Die Selbst-Verständlichen
(Elfriede Jelinek über den Film „Gangster Girls“ von Tina Leisch)
Da sind Anstalten voller interessanter Menschen, die sich gewiß überall behaupten könnten. Aber etwas hat bewirkt, daß sie sich im Leben selbst offenbar nicht behaupten konnten. Oft sind sie sich aus einer sehr starken Hand gefallen, nicht einfach ausgeglitten. Jetzt werden sie schön herausgeputzt und spielen das nieder, was ihnen im Leben so uneben dahergekommen ist, obwohl für die meisten das Leben glatt einhergeht, aber irgendwann vielleicht daneben. Zwei glatt, eine verkehrt. Die Verkehrten werden hier gezeigt. Schön geschminkt wie Models. Extrem, aber schon toll. Also wie die Essenz der Schönheit, die über Laufstege geht, nicht über Leichen. Diese Frau-Modelle (das Gegenteil von Models), sind weit entfernt von der dummen Machtpolitik des Lebens (sie sagen: selber schuld! Eine sagt: Ich bin ein schlechter Mensch, drum bin ich im Gefängnis, die andre sagt: Ich bin kein schlechter Mensch. Ich bin halt im Gefängnis), welche meist die Mehrheit bevorzugt (in Wirklichkeit: die Minderheit der Reichen bevorzugt, die sich die Drogen problemlos leisten und diskret verschaffen können). Der Film „Gangster Girls“ zeigt schöne, schöngemachte Frauen, was fast jeder Film zeigt. Dieser Film blendet die Herrschaft des Realen aus, indem er diese Herrschaft, als Herrschaft kenntlichgemacht und gleichzeitig schon wieder parodiert, vorzeigt. Die Gesichter sind durch sehr viel Makeup zu Nichtgesichtern gemacht, werden aber dadurch nur realer, kenntlicher, indem sie eben unkenntlich gemacht werden sollten (für das spätere Leben nach dem Gefängnis). Die Welt der Models ist, indem sie vorgeführt wird, indem Frauen vorgeführt werden, die wiederum Kleider vorführen – eigentlich das Wesentliche an ihnen, aber das funktioniert nicht, die Schönheit drängt sich immer aus den Kleidern heraus vor, heraus, wie der Wurm aus dem Apfel – , die eigentliche Realität für die Normalfrauen, die ja alle gern ausschauen würden wie die (und es auch könnten, wenn sie genauso gekonnt angemalt würden). Indem diese Frauen im Knast stilisiert werden durch die wunderbare, stilisierende wie hervorhebende Schminke (denn Schminke verbirgt nie!, auch wenn man das glauben mag), werden sie in gewisser Weise Vor-Bilder für sich selbst, indem sie aus sich heraussteigen und Theater spielen (eigentlich sich selber spielen, ohne sie selber sein zu müssen), sie fallen aus sich heraus, um erst mal etwas zu sein, das sie sein könnten (die Frau, die ihre Kinder nicht lieben kann, obwohl sie sie liebt, denn sie hat Liebe selbst nie erfahren, sie weiß nicht, was das ist, aber sie weiß, daß es in ihr ist: das Lieben. Liebe zählt also nur, falls man sie denn empfindet, wenn man sie auch zeigen kann. Sonst ist sie nicht oder jedenfalls nicht: Liebe. Frauen existieren überhaupt nur, wenn sie sich zeigen können. Sie entstehen im Gezeigtwerden. „Die kann sich durchaus noch zeigen“, heißt es manchmal von einer älteren, also: entwerteten Frau. Und auch das Fahren mit Verkehrsmitteln z.B. gilt erst, wenn auf der Fahrkarte der Stempel zeigt, daß man zum Fahren berechtigt ist. Die Fahrkarte, indem sie entwertet ist, zeigt erst ihren Wert). Die Frauen in diesem Film gehören sich in Bezug auf ein Späteres, ein Leben nach dem Knast (ambulanter Entzug, Hauptschule fertig machen, irgendein Job, wahrscheinlich aber: Putzen. Das kann die Frau immer machen. Das kann sie so selbstverständlich wie Frau sein), sie sind innerlich und oft auch äußerlich ausfällig gegen andre, weil sie selber ausgefallen sind, und indem man sie in einem Theaterstück filmt, fallen sie: auf. Das heißt, sie entstehen, indem sie sich zeigen und gezeigt werden. Sie können nicht mehr ausfallen, weil sie uns aufgefallen sind. Die Ereignisse, welche diese Frau hier hereingebracht haben in den Knast, waren eine Art Surplus, ein Mehrwert, etwas, das sie über das Normale hinaus getan, verbrochen hat, etwas, das sie aus ihrer Verhüllung des Normalen herausgerissen hat, in diesem Film werden sie mit Make-up verhüllt und treten dadurch nur noch mehr heraus, nein, leider nicht heraus, eher: hervor. Sie sollen im Theaterspielen aus sich herausgehen, aber bitte, gern, nichts lieber als das, würden sie sagen, auch wenn sie es manchmal nicht so gut hinkriegen. Aber indem sie so aus sich herausgehen und uns gezeigt werden, müssen sie doch drinnenbleiben, im Stillstand, obwohl sie doch für die Bewegung gedacht waren. Die Bewegung des Theaterspielens, des Nach-Spielens ihrer eigenen Leben, bringt sie zu sich, obwohl sie ja immer schon nur sie selbst waren. Das haben sie nicht gewußt, denn sie haben nicht gelernt, sie selbst zu sein. Also waren sie auch nicht. Sie kennen sich sehr gut, weil sie sich nicht kennen. Aber sie schreiben sich öffentlich so genau wie möglich nieder. Wenn sie sich niederlegen, ist das keine Niederlage, auch wenn es von einer Anstaltsleitung minutiös kontrolliert wird. Dadurch heben sie sich hervor. Im Gefängnis sind sie vor der Realität in gewisser Weise geschützt, eigentlich abgeschnitten, aber bald wieder wird das, was allen als Norm genehm ist, sie überschwemmen, wenn sie wieder in die Wirklichkeit zurückkommen.
Der Ausweg in die Künstlichkeit des Zweiten Gesichts (Make-up, Lidschatten, Eyeliner, Lippenstift, etc.) führt zu etwas wie Chiffren von Frauen, zu Prototypen, wie auf Leinwänden und Catwalks begehrt (Models sind ja längst Modelle für Frauen geworden, jede will so ausschauen wie sie, und Nachrichten über sie werden von vielen verschlungen, genauso wie Neugkeiten von Schauspielerinnen). Doch dieser Ausweg in die äußerste Stilisierung einer prototypischen Schönheit ist im Fall der Gangster Girls nicht ein von diesen Massen von Frauen Ersehntes, sondern die letzte Folge einer Überwindung ihres eigenen, individuellen Lebens, das man bei jedem Menschen wie selbstverständlich voraussetzt, diesen Frauen aber nicht erlaubt ist. Sie haben sich wahrscheinlich zuviele Freiheiten herausgenommen, und soviel Freiheit ist ja nicht da. Wie sollte man das Eigene bei denen voraussetzen können, die sich selbst nicht verstehen und vielleicht schon deshalb am liebsten andre wären, bloß um freundlich nachgeben zu können, wenn es verlangt wird? (Man nennt diese Überwindung des Freiheitswillens normalerweise das „Meistern“, das Meistern der Lehrmädchen des Lebens, während die, die bereits andre und anders sind, ausgesondert und auch noch aus sich selbst hinausgeworfen werden). Indem sie also künstlich werden, fallen diese Frauen im Gefängnis wieder in sich hinein, fallen zurück, betonen damit aber nur den Unterschied zwischen sich und all den Unauffälligen, die gezwungen sind, den Unterschied zwischen sich und dem Ersehnten, Wunderbaren, Hervorgehobenen leben zu müssen. Ob sie wollen oder nicht.